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Ein Beleg für den Glauben und die Widerstandskraft der Frau

February 1, 2025
von Medair
Ukraine
Wiederherstellung der Gesundheitsversorgung für Kinder in der Ukraine

Ein Beleg für den Glauben und die Widerstandskraft der Frau

Aufgrund des anhaltenden Konflikts benötigen gemäss den neuesten Zahlen der UNO 6,7 Millionen Frauen in der Ukraine dringend lebensrettende Hilfe, einschliesslich einer Unterkunft. Ihr Alltag ist geprägt von Angst und Ungewissheit, doch diese Frauen stellen tagtäglich ihre ungebrochene Resilienz unter Beweis.

Die Geschichte von Svitlana und ihren Kolleginnen ist eine von Mut und Entschlossenheit. Trotz aller Widrigkeiten entschieden sie sich, in der Ukraine zu bleiben, um anderen zu helfen.

Svitlana erzählt: «Wir konnten die Menschen nicht ohne medizinische Versorgung zurücklassen. Ich wollte nicht einmal versuchen, wegzugehen, weil ich wusste, dass ich hier sein muss. Ich werde hier gebraucht.»

«Zuerst verloren wir die Übersicht über die Wochentage und dann unser Zeitgefühl. Es fühlte sich an wie ein einziger langer Tag, der niemals enden wollte», sagt Svitlana.

Svitlana ist 57 Jahre alt und Chefärztin des Zentrums für medizinische Grundversorgung (Primary Health Care Center) in einer Kleinstadt mit 20 000 Einwohnern, 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Betritt man ihr Büro, so fällt einem sofort die penible Ordnung auf. Es riecht nach Medizin. Am Fenster stehen mehrere Blumentöpfe und an der Wand hängt der Asklepiosstab. Zunächst lächelt sie und scherzt, aber als wir über die letzten Monate zu sprechen beginnen, wird ihre Stimme zittrig.  

«Am 24. Februar war ich auf dem Weg zur Arbeit, als mein Telefon klingelte.  Es war meine Kollegin. Sie sagte, dass der Konflikt begonnen habe», sagt Svitlana. «Mir war bewusst, dass es jederzeit so weit sein konnte, aber ich weigerte mich, es zu glauben. Ich fing an, schneller zu laufen, und plötzlich sah ich mehrere Panzerkolonnen auf der Strasse, tote Soldaten, die auf der Strasse lagen, und Familien, die in ihren Autos erschossen worden waren. Ich rannte sofort zum Gesundheitszentrum, wo meine Teammitglieder alle Medikamente und Geräte zusammensuchten, damit wir den Menschen helfen und Leben retten konnten. Wir beschlossen, dass die Ärzteschaft von nun an von zu Hause aus arbeiten würde», sagt Svitlana.

Trotz der Angst hielten sie an der Hoffnung fest, im Wissen, dass ihre Gemeinde nun mehr denn je auf sie angewiesen war.

Svitlana und die anderen haben nie daran gedacht zu verlassen. «Wir konnten die Menschen nicht ohne medizinische Versorgung im Stich lassen. Da dies gleich am ersten Tag des Konflikts geschah, hatte niemand genug Zeit, um zu flüchten. Ich wollte nicht einmal versuchen, von hier wegzugehen, weil ich wusste, dass ich hier sein muss, dass ich hier gebraucht werde», sagt Svitlana und schaut aus dem Fenster.  

Mitglieder der Gemeinschaft laufen am zerstörten Bahnhof vorbei. Er wurde am ersten Tag des Krieges beschädigt.

Svitlana hält inne, bevor sie ihre Geschichte fortsetzt. Es gab so viele Panzer, dass sie aufhörte, sie zu zählen. Es gab keine Lebensmittellieferungen mehr in die Stadt; die Leute teilten untereinander, was sie hatten. Familien blieben aus Angst in ihren Häusern, aber Svitlana und der Rest ihres Kollegiums gingen weiterhin raus; ihre Entschlossenheit half ihnen, jede Furcht zu überwinden. Ihr Mut schenkte den Menschen um sie herum neue Hoffnung.

«Wir wussten nicht, wie wir Menschen helfen sollten, die unbedingt Insulin brauchen. Eine Apotheke in der Nähe des Bahnhofs war während der Kämpfe beschädigt worden, und plötzlich kam mir eine verrückte Idee.»

Nachdem sie die Erlaubnis des Besitzers der Apotheke eingeholt hatten, schlichen sich Svitlana und die anderen in das zerstörte Geschäft. Sie nahmen alle Medikamente und Windeln mit, die sie finden konnten. Allerdings hielten die Medikamente nicht lange und Menschen starben.  

Nichtsdestotrotz weigerten sich Svitlana und ihr Team aufzugeben, denn sie glaubten, dass jedes gerettete Leben ein Sieg ist.

«In unserem Spital konnten wir auch Neugeborene mit ihren Müttern medizinisch betreuen. Um sie machte ich mir am meisten Sorgen. Da gab es zwei junge Mütter, die eigentlich nicht lebten. Sie hatten hier nur ihre Kinder zur Welt gebracht. Diese Frauen liefen mit ihren neugeborenen Kindern 6 Kilometer zu uns, weil es keine Busse gab. Es war gefährlich, sich in der Stadt zu bewegen, weil man jeden Augenblick von Bomben getroffen werden konnte. Ich habe die ganze Zeit gebetet, dass sie sicher nach Hause kommen.» Mit ihrem Mut inspirierten diese Mütter auch uns als Medair dazu, weiterzumachen und weiter zu hoffen.  

Nachdem die Kämpfe vorbei waren, begannen Svitlana und die anderen Fachleute, die Schäden an den Gesundheitseinrichtungen zu prüfen. Fast alle Gebäude waren beschädigt. Die Fenster der Röntgenstation waren alle zerbrochen und das Dach war eingestürzt. Geschmolzener Schnee hatte eine Überschwemmung verursacht. Die Reparaturen haben begonnen und Svitlana fragt uns, ob wir den Fortschritt sehen möchten.

Wir gehen zu einem gelben zweistöckigen Gebäude, das vom Fenster von Svitlanas Büro aus zu sehen war. Jetzt verstehe ich, warum sie während unseres Gesprächs immer wieder aus dem Fenster schaute. Voller Stolz öffnet sie die Tür und bittet uns herein.

Das gelbe Gebäude beim Eingang zum Primary Health Care Center (PHCC) wurde während der Besatzung gleich am ersten Tag der Krise beschädigt. Als entschieden wurde, das Gebäude neu aufzubauen und hier eine Kinderambulanz einzurichten, half Medair bei der Wiederinstandsetzung.

«Als die Kinderambulanz zerstört wurde, blieben 5000 Kinder in diesem Gebiet ohne medizinische Versorgung zurück. Das Gebäude lag in Trümmern. Wir haben uns entschieden, dieses Gebäude neu aufzubauen und hier eine Kinderambulanz einzurichten. Als Medair uns dabei Hilfe zusagte, ging ein Traum in Erfüllung. Endlich können unsere Fachkräfte die Kinder unter angemessenen Bedingungen behandeln», sagt Svitlana.

Mit jeder Reparatur kommt man der Heilung einen Schritt näher. Und diese Klinik ist erst der Anfang. Sie ist ein Symbol für Resilienz und Glauben an die Zukunft.

Medair war bereits kurz nach dem Ausbruch des Konflikts in der Ukraine vor Ort, um Hilfe zu leisten. Das Shelter-Team von Medair reparierte das Dach der Klinik, ersetzte die Fenster und stellte die Heizung im Gebäude wieder her. Büroausstattung und medizinische Geräte wurden angeschafft, und bald wird das Spital eröffnet und kann Menschen aufnehmen, die medizinische Hilfe benötigen. Svitlana träumt jetzt vor allem vom Frieden. Sie will ohne Bomben leben, die zerstören, was sie und andere Gemeindemitglieder jahrelang mit Herzblut aufgebaut haben.

Svitlanas Mut inspiriert uns alle bei Medair, den Glauben nicht aufzugeben, weiterzumachen und den Frauen beizustehen, die in Krisenzeiten das Leben erhalten.  

Mit Ihrer Spende an Medair tragen Sie dazu bei, dass Menschen wie Svitlana weiterhin die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um ihren Gemeinden zu helfen. Engagieren Sie sich mit uns, von Konflikten betroffenen Gemeinschaften neue Hoffnung zu bringen und sie beim Wiederaufbau zu unterstützen. Gemeinsam können wir das Leben derjenigen, die es am meisten brauchen, entscheidend verbessern.

Svitlana, Chefärztin des Primary Health Care Center (PHCC), sitzt am Schreibtisch in ihrem Büro. Hier unterhielten wir uns über ihr Leben.

Die Arbeit von Medair für dieses PHCC in der Ukraine  wird von PMU und der Glückskette (CdB) gefördert.
Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

February 1, 2025
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