Weltflüchtlingstag: Eine syrische Geflüchtete im Libanon erzählt
«Es sind immer die kleinen Dinge, die in Erinnerung bleiben, wie das Aufwachen am Morgen im eigenen Bett, die Verwandten, die zum Frühstück kommen, die Spaziergänge in der Nachbarschaft mit meiner besten Freundin, all diese Dinge», sagt Fawziyeh.
Als 2011 der Konflikt in Syrien begann, wurden Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Sie verliessen ihre Häuser, hinterliessen ihr Hab und Gut und oft auch ihre Liebsten, denen es nicht möglich war, mit ihnen mitzugehen. Sie mussten Besitztümer und Gegenstände von sentimentalem Wert zurücklassen, sicher. Doch verloren haben diese Menschen ganz besonders ihr Gefühl von Sicherheit und Stabilität.
Seit nun dreizehn Jahren haben syrische Geflüchtete ihre Heimat nicht mehr gesehen. Noch immer herrscht der Krieg und hindert sie an der Rückkehr. In ihren Aufnahmeländern leben sie oft in ärmlichen Verhältnissen, in minderwertigen Unterkünften, und mit Restriktionen, die es ihnen erschweren, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Zukunft ist ungewiss und sie leben in einer Art Schwebezustand, ohne ein permanentes, sicheres Zuhause. Das zerrt an den Nerven. Geflüchtete tragen eine schwere mentale Last. Bei meinen Besuchen in den Zeltsiedlungen im Libanon sehe ich es immer wieder: Augen, die einst vor Hoffnung leuchteten, sind müde geworden.
Ich lerne Fawziyeh kennen, als ich das Kartierungsteam von Medair bei ihrem Besuch in einer Zeltsiedlung im Bekaa-Tal begleite. In Zusammenarbeit mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) erfasst das Team anhand von GIS-Kartierungtechniken Geflüchtete auf der Landkarte und erteilt ihnen eine Adresse. Diese Daten werden anschliessend mit der breiteren humanitären Gemeinschaft geteilt und ermöglichen bedarfsgerechtere Hilfeleistungen.
Fawziyehs Weg aus Syrien hier in den Libanon war alles andere als einfach. Im Gespräch erzählt sie mir über die Flucht aus ihrer Heimat und ihr Leben als Geflüchtete im Libanon.
«Es war ein anderes Leben. Ein Leben, in dem viel gelacht wurde und wir viele glückliche Momente mit der Familie teilten», erinnert sie sich. «Im Chaos der Flucht denkt man nicht an die Zukunft. Man denkt nur ans Überleben und bringt den inneren Aufruhr zum Schweigen. Es gibt keinen Leitfaden, also ist jede Entscheidung wesentlich, und du hoffst, dass die Entscheidung, die du triffst, die richtige ist», sagt sie und blickt zu Boden. Ihr neun Monate alter Sohn Mohammad sitzt auf ihrem Arm und blickt mich mit grossen Augen an.
«Damals war es eine schwierige Entscheidung, die Heimat zu verlassen, aber ich musste es tun. Jetzt tut es mir weh, daran zu denken. Jeden Tag denke ich an mein altes Leben zurück. Es sind immer die kleinen Dinge, die in Erinnerung bleiben, wie das Aufwachen am Morgen im eigenen Bett, die Verwandten, die zum Frühstück kommen, die Spaziergänge in der Nachbarschaft mit meiner besten Freundin, all diese Dinge. Als meine Familie und ich von zu Hause geflohen sind, habe ich mich an die Hoffnung geklammert, mir ein besseres Leben zu schaffen. Trotzdem glaubte ich, dass es nur vorübergehend sein würde.»
Fawziyeh erzählte mir von der Flucht inmitten der Nacht. An jeder Ecke drohte Gefahr und sie hatte grosse Angst, war überzeugt, sie würde nicht überleben. Lebensmittel mussten gut eingeteilt werden und manchmal ass Fawziyeh tagelang nichts. Nach der Ankunft im Libanon gab es neue Herausforderungen.
«Wir waren Fremde und wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Das Leben war unsicher und hart. Ein wenig Trost fand ich in den neuen Freundschaften mit Menschen, die wie ich waren. Wir sprachen zusammen über unsere Verluste und kamen einander so näher. Aber mit den Jahren verblassen meine lebhaften Erinnerungen, und das Leben wird nicht einfacher. Die Lage im Libanon verschlimmert sich immer mehr. Jetzt stehe ich vor Herausforderungen, über die ich keine Kontrolle habe, und ich habe Angst vor dem, was kommen wird. Es ist schwer, Arbeit zu finden, wir essen weniger Mahlzeiten am Tag, und Medikamente sind so teuer und schwer zu bekommen. Es ist ein ständiger Kampf, sich das Nötigste leisten zu können. Ich möchte nicht, dass Mohammad so ein Leben führen muss. Ich will ein besseres Leben für ihn», sagt sie entschlossen.
Ich begleite Fawziyeh auf ihrem Weg durch die Siedlung zum Zelt ihrer Familie und bekomme einen Einblick in ihre Lebensverhältnisse. Während wir nebeneinander herlaufen – Mohammad ist inzwischen auf dem Arm seiner Mutter eingenickt – erzählt sie mir, wie sie ein Jahr nach ihrer Ankunft im Libanon die Nachricht vom Tod ihrer besten Freundin erreichte. Bis heute ist der Schmerz gross. Mittlerweile sind Jahre vergangen und ein Ende dieser Umstände ist noch immer nicht in Sicht. Doch obwohl die Zeit als Geflüchtete tiefe Wunden hinterlassen hat, erblicke ich trotzdem immer wieder einen Funken Hoffnung in Fawziyehs Augen.
Im Libanon sind Fawziyeh und Millionen andere Geflüchtete weiterhin von den anhaltenden Unruhen betroffen, die das Land fest im Griff haben und die ihre Last noch vergrössern. Den heutigen Weltflüchtlingstag möchte ich Fawziyeh widmen. In meiner Arbeit staune ich immer wieder über die Resilienz von geflüchteten Menschen. Auch wenn die Jahre ins Land ziehen, ist in ihren Augen stets Hoffnung zu erkennen: die Hoffnung, dass es trotz aller Widrigkeiten eines Tages wieder einen Ort geben wird, den sie ihr Zuhause nennen können.