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Aus Klassenzimmern werden Notunterkünfte

January 9, 2025
von Medair
Libanon
"Wir unterstützen und helfen uns gegenseitig. Ich habe Angst, dass wir uns an die derzeitigen Lebensumstände gewöhnen, und das wollen wir nicht. Wir wollen nach Hause zurückkehren." Marwa

Seit nun etwas mehr als einem Jahr herrscht im Nahen Osten ein bewaffneter Konflikt. Auch der Libanon ist in den Konflikt involviert, mit schweren Folgen für die Bevölkerung. Seit dem 24. September haben sich die Luftangriffe intensiviert und Familien gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen. Viele haben in Schulen Zuflucht gesucht, die zu Notunterkünften umfunktioniert wurden. Lokale Behörden im Libanon schätzen, dass die Zahl der Vertriebenen die Marke von 1,4 Millionen Menschen überschritten hat, was fast einem Viertel der Bevölkerung entspricht. Mit Stand vom 23. Oktober waren 191 503 Binnenvertriebene und 1096 Sammelunterkünfte registriert.

Schulen, die einst Orte waren, an denen Kinder lachten, lernten und spielten, sind nun zu Unterkünften für Familien geworden, die alles verloren haben. Klassenzimmer wurden in Wohnräume umgewandelt. Tische und Stühle wurden beiseitegeschoben, um Raum für Schlafplätze zu schaffen.

© Abdul Dennaoui

Trotz der düsteren Umstände versuchen die Menschen, ihre vorübergehende Realität zu akzeptieren, und klammern sich an die Hoffnung. Der herannahende Winter stellt viele vertriebene Familien im Libanon vor grosse Herausforderungen, da sie nicht über die notwendigen Mittel wie Heizungen, Decken und Matratzen sowie Winterkleidung wie Jacken verfügen, um den harten Witterungsbedingungen standzuhalten. Diese zusätzliche Herausforderung verschlimmert ihr Leid. Die Familien haben ihre Häuser mit dem wenigen Hab und Gut verlassen, das sie mit blossen Händen tragen oder in ihr Auto packen konnten. Nun machen sie sich an der Hoffnung fest, irgendwann nach Hause zurückkehren zu können. Marwa, die mit ihrer Familie in einer Sammelunterkunft im Libanongebirge Schutz sucht, sprach mit uns über die Flucht vor den Luftangriffen und die Sehnsucht, in ihre Heimat zurückzukehren.

“Ich komme aus den südlichen Vororten von Beirut. Meine Familie und ich sind sofort geflohen, als sich in der Nähe unseres Hauses ein heftiger Luftangriff ereignete. Unsere Fenster zerschmetterten, und ich konnte die verzweifelten Schreie meiner Tochter aus ihrem Kinderzimmer hören.”

Sie hält kurz inne und fährt dann fort: "Gott sei Dank haben wir ein Auto und konnten sofort losfahren. Hunderte von Menschen aus unserer Gemeinde flohen auf einmal. Ich startete das Auto und fuhr los, ohne ein klares Ziel zu kennen, und folgte zittrig den Autos, die die Berge hinauffuhren. Meine Tochter bibberte vor Angst, also spielten wir Spiele, um sie zu beruhigen. Zum Beispiel zählten wir erst die roten und dann die schwarzen Autos.”

© Abdul Dennaoui

"Nachdem wir eine Weile gefahren waren, fanden wir ein Café und beschlossen, dort kurz Pause zu machen,” fährt Marwa fort. “Der Besitzer fragte uns, woher wir kämen, und als wir ihm erzählten, was passiert war, bot er uns freundlicherweise an, die Nacht dort im Café zu verbringen. Meine Familie schlief auf Bänken, und ich schlief in dem kleinen Garten draussen." Marwa erklärt, dass das Leben in den südlichen Vororten von Beirut, einer überfüllten Gegend mit dicht aneinander gedrängten Häusern, ihr nur selten Momente der Ruhe bietet. In jener Nacht im Garten des Cafés, inmitten des Chaos, konnte sie zum ersten Mal seit langem innehalten und nachdenken: "Es war das erste Mal seit langem, dass ich die Sterne wahrnahm."

"In dieser Nacht waren wir zehn Personen. Später erzählte uns ein Familienmitglied, dass eine Schule für Familien, die Zuflucht suchen, eröffnet wurde”, antwortet Marwa auf die Frage, wie sie in die Sammelunterkunft gelangt ist. “Wir schlossen uns unseren anderen Familienmitgliedern an und fuhren zu dieser Schule. Jetzt sind wir 13 Familien, etwa 40 Personen, die zusammen in einem Klassenzimmer untergebracht sind. Wir unterstützen und helfen uns gegenseitig. Ich habe Angst, dass wir uns an die derzeitigen Lebensumstände gewöhnen, und das wollen wir nicht. Ich möchte das nicht für meine Familie. Wir wollen nach Hause zurückkehren."

Unser Team im Libanon kümmert sich weiterhin um die Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung. Seit dem 23. September hat Medair mit finanzieller Unterstützung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) über 10 000 Matratzen und Decken an die vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen verteilt.

In 187 Sammelunterkünften hat Medair Bestandsaufnahmen durchgeführt, um die Daten zu aktualisieren, den Zustand der Gebäude zu bewerten und den Bedarf zu ermitteln. Anschliessend haben wir kleinere Reparaturarbeiten vorgenommen, wie etwa den Einbau von Duschen, Türgriffen, Fenstern und Trennwänden, um einen Raum zu schaffen, in dem die Menschen in Würde leben können. Unser Team hat die Reparaturarbeiten von 37 Sammelunterkünften im Bekaa-Tal bereits abgeschlossen, bei weiteren 37 sind die Arbeiten im Gange und 81 befinden sich in der Genehmigungsphase.  

Um das psychische Wohlbefinden der Vertriebenen zu unterstützen, haben wir Freiwillige in psychologischer Erster Hilfe geschult und führen in den Sammelunterkünften Kurse durch. Bis vor kurzem hatte Medair in der Region zwei Zentren für die medizinische Grundversorgung unterstützt. Nun ist die Anzahl um vier weitere Zentren auf insgesamt sechs ausgeweitet worden. Auch richten wir mobile Kliniken für die 27 ausgewiesenen Sammelunterkünfte in der unmittelbaren Umgebung ein. Angesichts des nahenden Winters weiten wir zudem unsere Hilfe aus, um den Bedürfnissen der betroffenen Bevölkerung gerecht zu werden, die derzeit in Sammelunterkünften untergebracht ist.  

Die Arbeit von Medair im Libanon wird durch Mittel des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR), der Glückskette, der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit über Interaction-CH, des Deutschen Auswärtigen Amts und grosszügiger privater Spenderinnen und Spener ermöglicht.
Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

January 9, 2025
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