Erinnerungen an Afghanistan
Ich habe keine liebste Erinnerung an Afghanistan, alle Erinnerungen sind gleich wertvoll.
Zu meinen ersten Erinnerungen an meine Zeit in Afghanistan gehört die Schönheit der Landschaft – und dass ich binnen weniger als 24 Stunden wegen eines zahnärztlichen Notfalls wieder abreisen musste. Ich erinnere mich auch an die Nacht, in der unser Team das Lied «Twinkle Twinkle Little Star» lernte und für den Geburtstag eines australischen Kollegen sang. Die Worte stiegen durch die Fenster des abgelegenen Stützpunkts in den Nachthimmel. Ich erinnere mich an lange Fahrten zu Gemeinschaften hoch oben in den Gebirgstälern und an die Begegnung mit den Familien dort. Ich weiss noch, wie mir die Frauen nach einem Sommer harter Arbeit stolz ihre üppig mit Radieschen und Kopfsalat bepflanzten Gemüsegärten zeigten, oder an ihre Töchter in Schuluniformen, die mit strahlenden Augen Blumen auf die Rückseiten von Quittungen oder Ersatzheften malten. Die habe ich immer noch.
Die Menschen in Afghanistan haben mich wie eine der Ihrigen in ihre Familien aufgenommen. Sie haben mir Geschichten erzählt, die wertvoller sind als alles, was man mit Geld kaufen kann. Manche Männer liessen sich von mir bei der Wartung von Wasserstellen oder beim Zeichnen von Katastrophenkarten für ihre Gemeinschaft fotografieren. Manche Frauen und ihre Familien durfte ich in ihren Häusern fotografieren. Sie bestanden auch darauf, dass ich mich zu ihnen setze und eine Tasse Wasser oder Tee trinke. Die Gemüsegärten von manchen Familien waren so ertragreich, dass sie die Ernte gar nicht schnell genug verteilen konnten und ganze Gemeinschaften mit dem angebauten Gemüse ernährten. Von anderen Orten im Land schickten mir Teammitglieder Fotos von Kindern, die sich dank unserer Ernährungsprogramme von Unterernährung erholten. In ihren SMS und E-Mails berichteten sie von Familien, die sie im Laufe des Tages getroffen hatten.
Ich habe eine Facette Afghanistans kennengelernt, die nicht viele zu sehen bekommen.
In Afghanistan habe ich Mitgefühl und Entschlossenheit, echte Zuneigung und Beharrlichkeit erlebt. Ich habe das Land über unzähligen Gläsern starken, mit einem Zentimeter Zucker servierten Schwarztees kennengelernt. Es war ein Land, in dem die Einwohner Drachen und Tauben in den von Bergen umrahmten Himmel steigen liessen. Es war ein Land, in dem mir die örtlichen Teammitglieder ihre Geschichten erzählten, in Geschäften und bei Treffen für mich übersetzten, oder mich zum Lachen brachten, wenn ich Heimweh hatte und meine Familie vermisste.
Ich habe Afghanistan vor sechs Jahren verlassen, doch die Erinnerungen sind bis heute lebendig und versetzen mich immer wieder dorthin zurück. Manchmal bringen mich Erinnerungen spontan zum Lachen und meine Freunde und Verwandten müssen warten, bis ich mich wieder gefangen habe und es ihnen erklären kann. Manchmal sind die Erinnerungen so herzzerreissend, dass ich meine morgendliche Joggingrunde unterbrechen und einfach weinen muss.
Afghanistan ist und bleibt meine erste Liebe in der humanitären Arbeit. An den Wänden in meiner Wohnung hängen Fotos von Sonnenaufgängen über majestätischen Landschaften und von Menschen, denen ich begegnet bin. In meinem Schrank stehen Tassen aus Kabul, und immer noch trage ich die Schals, mit denen ich dort mein Haar bedeckt habe. Die Zeit in Afghanistan hat einen festen und kostbaren Platz in meiner Erinnerung.
Bis heute fehlt mir Afghanistan, doch im Herzen bleibe ich dem Land, das ich lieben gelernt habe, nah verbunden.
Lucy Bamforth war als Kommunikationsbeauftragte von Medair in Afghanistan tätig.
25 Jahre nach dem ersten Einsatz von Medair in Afghanistan bleibt unser Engagement für die Menschen dort unverändert. Erfahren Sie hier, wie Sie helfen können.
Medair ist eine internationale humanitäre NGO, die Nothilfe- und Wiederaufbaumassnahmen für Familien leistet, die durch Naturkatastrophen, Konflikte und andere Krisen in Not geraten sind. Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am Hauptsitz von Medair verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Standpunkte anderer Hilfsorganisationen übertragbar.